15. April 2024 –

Niedersachsen braucht mehr als 500 Hausärzte

Mediziner im Wendland gesucht - Gratwanderung für Hausärzte

Im Wendland ist der Weg zum nächsten Hausarzt oft weit. Die Praxen sind meist überlaufen. Manche Ärzte fühlen sich wegen des naturnahen Lebens und der Gemeinschaft untereinander trotzdem sehr wohl.

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Foto: 03.04.2024: Jonas Niemann, Hausarzt, steht in einer seiner Praxisräume. Im abgelegenen Wendland gibt es nur wenige Hausärzte. Die wenigen sind meist überlaufen. Manche fühlen sich wegen des naturnahen Lebens und der Gemeinschaft untereinander trotzdem sehr wohl., Foto: picture alliance/dpa

Seit Jonas Niemann die Frühsprechstunde eingeführt hat, schafft er noch mehr Patienten am Tag. Von 8.00 bis 8.30 Uhr geht es nur um ein Anliegen an seinem Stehpult, die Zeit ist auf fünf Minuten begrenzt. «So ein Termin ist sehr begehrt, weil es keine Wartezeit gibt», erzählt der 48-Jährige. Vor 14 Jahren zog es den gebürtigen Göttinger ins Wendland, weil seine Frau, eine Agraringenieurin, als Landwirtstochter in die Heimat zurückwollte.

Zu seiner Hausarztpraxis in der beschaulichen Gemeinde Lemgow kommt der Vorsitzende des Ärztevereins Lüchow-Dannenberg am frühen Morgen mit dem Rad, von 7.30 Uhr bis 19.00 ist er im Dienst - inklusive Mittagspause und Hausbesuchen. «Vor 30 Jahren gab es in dieser Praxis noch drei Ärzte, vor 20 noch zwei und ich bin übrig geblieben», berichtet er.

Etwa 250 Rezepte pro Tag

Um die Region abzudecken, hat er sich 2014 mit einem Kollegen zu einer Gemeinschaftspraxis zusammengeschlossen. Das Besondere: die Dependance des zweiten Allgemeinmediziners liegt 25 Kilometer entfernt in Gartow. Gemeinsam kommen sie nach Angaben von Niemann auf durchschnittlich 250 Rezepte am Tag, jeder behandele etwa 80 Patienten und Patientinnen. Im Quartal betreuten sie zusammen rund 2500. Finanziell werde Hälfte/Hälfte gemacht: «Wir vertrauen und teilen, es passt von der Art. Wir arbeiten gleich viel», berichtet er. Viele ähnliche Modelle in der Umgebung seien gescheitert - es sei fast wie in einer Ehe.

An den beiden Standorten sind insgesamt zwölf Angestellte beschäftigt, derzeit bildet das Duo einen Berliner Neurologen zum Hausarzt aus, zuvor war es ein Intensivmediziner. Was ihn an der vielen Arbeit in der abgelegenen Region reize? «Ich begleite Menschen in allen Lebensabschnitten, ans Herz geht die Betreuung der Älteren. Das ist eine schöne Aufgabe», erzählt Niemann. Oft müsse er neue Patienten aus Kapazitätsgründen ablehnen, Mitglieder einer Familie würden aber immer aufgenommen. Viele kämen auch mit psychologischen Problemen. «Ich höre zu», sagt er. 2015 habe die Praxis einen Flüchtling aus Afghanistan angestellt und vier Jahre zum Fachangestellten ausgebildet, das habe unter einigen konservativ eingestellten Einwohnern für Aufmerksamkeit gesorgt.

Wendlandärztin-Film auf YouTube

Um mehr Ärzte aller Fachrichtungen anzulocken, hat die Vermittlungsagentur Wendlandleben in Lüchow den kleinen Film «Wenn Landärztin, dann Wendlandärztin» auf YouTube gestellt. Darin erzählen vor allem junge Mediziner, wie gut es ihnen in der Region gefällt - meist wegen der Vernetzung untereinander und des entschleunigten Privatlebens. Lorenz von Pfister, Unfallchirurg an der Elbe-Jeetzel-Klinik Dannenberg, zog aus Berlin nach Hitzacker. «Ich fand, dass man hier besonders viel Wertschätzung erfährt. Das ist anders als in der Stadt. In der Stadt ist man so austauschbar», sagt er in dem Video.

Karriere könne man auf dem Land allerdings nicht machen, heißt es auch. «Oft ist es eine Stadtflucht. Wenn man es über hat, ist man hier richtig. Man hat viel Lebensqualität», sagt Sigrun Kreuser von der Agentur. Es gebe fast keine Branche, in der es keinen Fachkräftemangel gebe. «In ländlichen Regionen brauchen wir Leute im Bereich Bildung, Logistik und Handwerk.»

Über 500 Hausärzte in Niedersachsen gebraucht

Niedersachsenweit gebe es aktuell einen Bedarf von etwa 550 Hausärzten. «Wir brauchen mehr Ärzte und mehr Studienplätze», erklärt Oliver Christoffers, Geschäftsführer der Bezirksstelle Lüneburg der Kassenärztlichen Vereinigung. Besonders Medizinerinnen wollten nach dem Studium in Teilzeit arbeiten. In Regionen wie dem Wendland sei der Anteil der älteren Patienten zudem hoch. Doch: «Es gibt Zuzug, wir haben Urlauber, die sich da niederlassen, weil es ihnen so gut gefällt.»

Der «Fulltime-Job mit Haut und Haaren», wie Niemann ihn nennt, lauge auch aus. Wenn er nachts nicht schlafen kann, schreibt der Freizeit-Autor an seinem neuesten Werk weiter. Mit seinem Erfahrungsbericht «Patient Krankenhaus», in dem er seine sechs Jahre in der Klinik als Assistenzarzt verarbeitet hat, tourt er immer noch durch Deutschland. Am liebsten würde er mehr schreiben und seine Sprechzeiten reduzieren, doch das rechne sich nicht.

Wenn er abends seinen weißen Kittel auszieht, versucht er beim Schwimmen und Radfahren abzuschalten. Seine fünf Kinder schätzen den Reitstall und die drei Pferde auf dem heimischen Hof, einem restaurierten Schulhaus. Deshalb Niemann will trotz der langen Arbeitszeiten im Wendland bleiben: «Ich bin hier absolut richtig. Wir leben im Nichts, es ist die totale Idylle.» Zehn Jahre wird er noch durchziehen. «Ich bin jetzt hier und das Gleis endet auch hier.»

(dpa)

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